Benedikt Leitner: Wann war dein erstes Konzert mit dem Klangforum Wien?
Peter Böhm: Das war in der Secession in Wien, mit Carol Morgan, meine ich.
BL: Das war damals die Klangforum Pianistin, genau. War das vor 1989?
PB: Ja, ich glaube, das war schon 1987. Da habe ich bereits mitgearbeitet und mir sogar extra eine Anlage ausgeliehen.
BL: Aber hat dich die Neue Musik interessiert, oder war das ein zufälliger Kontakt mit Beat Furrer, zum Beispiel? Was hat dich zur Neuen Musik gebracht?
PB: Ich habe Geige und Jazztheorie studiert und in Wiener Neustadt George Russells Lydian Chromatic Concept mit Robert Weiß unterrichtet. Ich war also schon seit jeher sehr interessiert an verschiedenen Musikrichtungen, auch technisch, aber gesamt gesehen muss Musik für mich eigentlich immer auf was Neues zusteuern. Ich bin ein riesiger Fan von Edgar Varèse und anderen Aufnahmen von neuer Musik.
BL: Das war also deine Leidenschaft?
PB: Absolut. Ich wollte eigentlich nichts machen, was in einer Art Wiederholung endet.
BL: Du hast ja auch mit Roland Neuwirth gespielt, oder?
PB: Ja, genau. Das war auch sehr spannend. Wir haben bei verschiedensten Gelegenheiten gespielt.
BL: Okay, also das war sozusagen dein Einstieg. Das heißt, du warst quasi von Anfang an dabei. Und wenn wir jetzt zurückblicken – wenn du dir zwei oder drei Höhepunkte aus diesen ganzen 40 Jahren auswählen könntest, welche Projekte wären das?
PB: Oh, das ist sehr schwer. (Überlegt) Es gab ja wirklich so viele, die super interessant waren. Aber vielleicht ist eines der für mich tollsten Projekte, die ich so in Erinnerung habe, Construction in Space von Olga Neuwirth. Ihre Werke waren für damalige Zeiten extrem aufwendig. Es waren ja viele Dinge an der Grenze des Realisierbaren, es war nicht so wie heute, nicht so selbstverständlich. Ich bin ja noch in einer Zeit eingestiegen, da gab es noch nicht einmal Laptop oder Computer.
BL: Das war aber Live-Elektronik, oder?
PB: Das waren Granular-Samples, die dann verschiedene Flächen bilden.
BL: Und vier Solist:innen.
PB: Ja, vier Solist:innen. Und ich glaube 15 Lautsprecher. Und was ich auch immer sehr gerne gemacht habe, sind Luigi Nono-Stücke.
BL: Ich habe mir schon gedacht, dass das kommt. (Lacht)
PB: Also, angefangen bei À Pierre zum Beispiel.
BL: À Pierre war ja eine unglaublich wichtige Aufführung für das Klangforum Wien, eines der ersten Konzerte bei den Salzburger Festspielen.
PB: Genau, und damals habe ich mir drei, vier Analoggeräte ausgeliehen, um diese langen Delays überhaupt machen zu können – es gab ja diese Elektronik nicht. Das habe ich eigentlich immer geliebt, so auf mich gestellt zu sein, die Informationen einzusammeln und dann an dem Stück zu arbeiten, es vorzubereiten.

BL: Kannst du dich an Der Wald, die Oper von Olga Neuwirth, erinnern? Mit dem Text von Elfriede Jelinek, zusammen mit Sarah Barrett? Sie hat die quietschende Tür gemacht, die hat das wahnsinnig gut imitiert. Heutzutage würde man wahrscheinlich ein Sample starten. Und daran sieht man auch schön, wie sich so etwas in den letzten 40 Jahren rasant beschleunigt hat. Heute hat ja quasi jede:r Komponist:in Zugang zu dieser Technologie, alle können zu Hause ein Stück vorfabrizieren?
PB: Es ist ja auch wichtig, glaube ich, dass die Tools und Werkzeuge frei verfügbar sind. Ich finde es viel interessanter, wenn sozusagen fast alle Zugang zu den Werkzeugen haben. Das ist überhaupt ein gesellschaftlicher Aspekt, der dahintersteckt, und mich auch immer interessiert hat. Zum Beispiel die nicht orchestrale Gruppierung beim Klangforum Wien. Da gibt es eben keinen strengen Apparat der Verwaltung, sondern Individuen, die etwas zusammen schaffen wollen. Und das hat mich in den 90ern schon wahnsinnig fasziniert, diese Selbstständigkeit der Leute, das Engagement von uns allen. Ich habe mich immer als eine Art Mitglied gesehen, aber nie die Mitgliedschaft oder dergleichen angestrebt. Ich dachte immer, um jetzt den Begriff der wilden Ehe zu bemühen – wenn man zusammen sein will, dann passiert das.
BL: Du wolltest diese Freiheit auch selbst füllen?
PB: Genau. Und das ermöglicht dann für alle ein gutes Zusammenarbeiten, ein Zusammensein. Das hat für mich auch tadellos geklappt.
BL: Wir sind dir auch unendlich dankbar, das muss auch gesagt werden. Diese ganze Aufbauarbeit, da war alles ein bisschen roh und noch nicht so gut strukturiert, aber wir waren neugierig, nicht? Und ich kann mich erinnern, wir haben einmal das Stück von Beat Furrer –
PB: Genau, Beat war sicher auch ein ganz wichtiger Faktor, warum ich überhaupt zur Musik gekommen bin. Ich war immer sehr fasziniert von seiner Akribie, Neues zu entwickeln, also eine Sprache zu wählen, die nicht so gefällig ist, und die mich sehr an verschiedene Aspekte in der Musik des 20. Jahrhunderts erinnert hat. Diese Ideen von Wolken und Schwärmen. Einige Stücke von ihm, die ähnlich konstruiert sind wie kleine Partikelchen und dann erst etwas Ganzes ergeben, im wahrsten Sinne des Wortes. Er hat mich oft gefragt, ob man das, irgendein ganz kleines Geräusch, verstärken kann, ob das dann gehört wird. Das habe ich natürlich sehr dankbar aufgenommen, weil ich mir gedacht habe, ah, das kann ich ja regeln. Was mich an dem elektronischen Prozess immer interessiert hat, war, dass man etwas manuell regeln kann, dass man das beeinflussen kann, nicht? Im Vergleich zu heute, wo tausende Parameter vorgespeichert sind und dann im Endeffekt im Konzert nur noch auf Knopfdruck abgerufen werden, ist für mich eigentlich ein bisschen was verloren gegangen von diesem Geist der Kreativität. Ich habe das immer wie ein Instrument gesehen und nicht wie eine Maschine.
BL: Ja, und wir haben natürlich immer großes Vertrauen gehabt. Die Position des Klangregisseurs muss ja so betrachtet werden wie die eines Instrumentalisten, ich auf jeden Fall habe es immer so gesehen, und man muss viele Entscheidungen treffen, nicht? Wir waren damals 15 Leute, und das kann schon kompliziert sein, wie du weißt. Wenn der eine sagt, das ist immer zu laut und die andere sagt, das ist immer zu leise, und ich würde das gerne hören und, und, und. Das war ja hoffentlich auch eine interessante Reibungsfläche für dich, aber wahrscheinlich auch nicht immer sehr angenehm, oder? Wenn A und B und C kommen und alle drei sagen drei verschiedene Sachen, sitzt du ja dann in dem Moment dort und musst das alles auch noch austarieren.

PB: Ja, also das konnte ich immer ganz gut, glaube ich, ausbalancieren, wenn verschiedene Anforderungen auf mich einprasselten. Genau, also einprasseln ist vielleicht das richtige Wort, weil es meistens im Probenprozess völlig ungefiltert daherkommt und man muss dann natürlich damit umgehen und einen Mittelweg finden.
BL: Und dann gibt es noch einen Faktor, der dazukommt, denn im Konzert sind dann ja auch noch Leute im Publikum, die verändern das wieder, und das ist für uns, die auf der Bühne sitzen, unglaublich komplex. Meistens sind auch die Boxen vorne, dadurch hören wir auch nicht immer alles in seiner Gänze. Es bleibt also immer eine Grauzone und eine Vertrauenssache.
PB: Das ist schon fast wie in der Atomphysik, nicht, also durch die Beobachtung verändert man dann wieder das Ergebnis.
BL: Das Interessante ist auch, finde ich, dass sich das Ohr, meiner Erfahrung nach, auch an Begebenheiten gewöhnt. Das heißt, es ist etwas anderes, wenn ich um 08:30 Uhr in einen Raum gehe und etwas abhöre, als wenn ich schon eine halbe Stunde drin gespielt habe und was gehört habe. Also, das ist schon komplex, auf jeden Fall.
PB: Das Akustische ist generell sehr kompliziert, denn wie es schon Alvin Lucier formuliert hat, gibt es ganz unterschiedliche Positionen. Das heißt jeder Sitzplatz, jede Position im Raum hört natürlich unterschiedlich und man kann auch nicht allen alles optimal servieren.
BL: Ja, die letzte Entscheidung, die Letztentscheidung während des Konzertes, ist eine sehr wichtige und große.
PB: Und es ist nicht nur eine Frage der Konzerte, auch der Machbarkeit, nicht? Wenn am Vorabend aufgebaut werden soll und am nächsten Tag ist schon die Generalprobe, dann kann man nicht stundenlang testen.
BL: Nein, der Zeitplan ist dicht.
PB: Genau. Und das hat sich leider, finde ich, sehr verkürzt, diese Zeiträume für ein Konzert sind immer kleiner oder enger – oder durchstrukturierter ist vielleicht das bessere Wort – geworden. Und man hat überhaupt nicht mehr, glaube ich, die Chance zur Reflexion, wie zum Beispiel mal für eine Stunde rauszugehen und es danach nochmal anzuhören.
BL: Ja, das muss dann funktionieren. Aber ist das nicht auch ein Grund dessen, dass eben immer mehr und immer komplexere Geschichten versucht werden von Komponist:innen? Dass sie sozusagen einfach alle Tools haben und sie wissen viel und...
PB: Also, das glaube ich nicht, ehrlich gesagt. Erstens ist die technische Komplexität – also was gesteuert werden kann und so weiter – nicht unbedingt linear zu dem, was ich unter Komplexität verstehen würde. Komplex ist für mich, wenn die kompositorischen Ideen quasi am Rande der Realisierbarkeit sind, oder irgendetwas Neues erforschen, das man wieder begehen muss, nicht? Da ist nicht die gelbe und rote Markierung eines Wanderwegs, der asphaltiert ist, sondern man muss dann bei jedem Schritt irgendwie schauen, wie steige ich auf die Wurzel oder gehe ich durchs Nasse und so weiter. Und das sind oft Mikroentscheidungen, die das Ganze stark beeinflussen. Und ich würde gar nicht sagen, dass heutzutage komplexere elektronische Stücke entstehen. Sie sind eben, glaube ich, anders. Es ist eine andere Beziehung zur Technik und zur Elektronik oder zur Aufgabe: Wozu braucht man das überhaupt? Also die Vision des vorigen Jahrhunderts, dass alles Akustische irgendwann ersetzt wird durch elektroakustische Medien, die ist ja überhaupt nicht mehr als Vision vorhanden, glaube ich – und ist auch meiner Meinung nach wirklich ein bisschen fragwürdig.
BL: Es wird auch viel mit Kopfhörern gehört, nicht?
PB: Ja, das kommt noch dazu, dass wir in einer Welt leben, in der für alle, beispielsweise in der U-Bahn, 27 akustische Räume durch Kopfhörer entstehen. Also, man nimmt ja gar nicht mehr den Raum als etwas Wichtiges, akustisch Wichtiges, wahr.
BL: Ja, aber wir können sozusagen trotzdem den Traum erhalten, und das ist ja das, was wir mit unseren Konzerten versuchen, zumindest das Optimum für den Moment zu schaffen.
PB: Ich glaube, das ist sehr wichtig. Ich kann mich zum Beispiel erinnern, ich habe von Janáček die Sinfonietta immer auf Schallplatte gehört, und dann habe ich mit 14 eine Live-Aufführung in Wien erlebt, und war verwundert, wie gigantisch dieses räumliche Erlebnis, die Klangfarben, dieses Dreidimensionale einfach wirkt. Und das ist genau das, wo ich glaube, dass wir heute in einer falschen, unter Anführungszeichen, Welt leben, weil so viel dann auf Konserve und auf irgendwelchen Medien, seien es jetzt auch nur kleine Lautsprecher am Laptop, gehört wird. Da kann man ja keine tieffrequenten Sachen darstellen, zum Beispiel, und da weiß ich nicht, wohin die Zukunft geht.
BL: Du hast ja auch bei vielen unserer Aufnahmen als Aufnahmeleiter mitgearbeitet, zum Beispiel im Casino Zögernitz.
PB: Ja, und zum Beispiel bei den Zender-Aufnahmen. Das haben wir hier (Anm.: in der Diehlgasse) aufgenommen. Ursprünglich gab es die Idee, dass man im Proberaum auch aufnehmen können soll, aber ich glaube, das ist heute nicht mehr so wichtig, weil die Produktion von Tonträgern nicht mehr so einen hohen Stellenwert hat.
BL: Du hast ja auch bei der Umgestaltung unseres Proberaums mitgearbeitet und uns bei der Akustik beraten?
PB: Ja, zum Beispiel bei der akustischen Abschirmung und den Türen, damit man den Straßenlärm nicht hört.
BL: Genau... Nun... das waren sozusagen unsere 40 Jahre – oder zumindest Teile davon.
PB: Ja, im Nachhinein betrachtet würde ich es wieder so machen. (Lacht)
BL: Das ist ja das Schöne, dass wir einander kennen. Und es waren schon wilde Zeiten. Und jetzt geht es auch weiter, jetzt muss man es den Jungen übergeben.
PB: Ja, ich bin sehr gespannt. Also, ich denke, das ist eine ganz große Chance, dass man immer nach vorne die Tür offen hält für etwas, was passieren kann und könnte, und diesen Dingen den Raum gibt, weil mehr kann man nicht tun. Und ich will in dem Zusammenhang auch wirklich allen danken, die dabei waren und die eben an diesem Diskurs teilgenommen haben. Es war wirklich eine sehr wichtige Zeit für mich.

Gesprächsfotos: (c) Christina Kastner/Klangforum Wien


